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Wie ein Blutgerinnsel

Inga betritt meine Wohnung, ohne um Erlaubnis zu fragen. Sie hat knappe Shorts und ein winziges aquamarinblaues Tank-Top mit integriertem BH an. Sie ist gramgebeugt, und das lässt ihr Gesicht zehn Jahre älter aussehen. Trotz ihres Kummers hat ihr Gehabe etwas Oberflächliches, wie auf den Fotos von Paris Hilton, wenn ihr die Sonne ins Auge scheint. Ich frage mich, warum mir das früher nie aufgefallen ist.

»Darf ich reinkommen, Rosie?«, flüstert sie mit gequälter Stimme.

»Ich glaube, du bist schon hereingekommen«, sage ich nur und fühle mich weniger großspurig, als ich mich anhöre – um der Wahrheit die Ehre zu geben, bin ich verängstigt. Mit ihren langen, schmalen Fingern umklammert sie ein kleines Büchlein. Sie bemerkt meinen Blick auf das Buch in ihren Händen und atmet tief ein.

»Rosie, Rosie«, sagt sie und atmet dramatisch aus.

»Inga, Inga«, kontere ich unfreundlich. Ihre Anwesenheit in meinem Wohnzimmer bringt meine schlechteste Seite ans Licht. Ich will nicht gemein sein, aber sie hat das falsche Publikum für ihr Melodram gewählt. Als ich zu ihr nach Hause kam, um mit ihr zu reden, ist sie aus der anderen Tür geflohen. Jetzt bin ich beinahe versucht, mich aus dem dritten Stock zu stürzen, um ihr zu entkommen. Ich stelle mir vor, wie ich auf dem harten Zementboden unseres Swimmingpools liege, wie schockierte Anwohner meinen verrenkten Leichnam umrunden wie einen umgestürzten Planwagen und wie Inga schreit: »Nein!«

Aber was sollte Inga daraus lernen? Ich weiß ja nicht wirklich, wie jemand sich unter diesen Umständen wirklich verhält.

»Ich würde dich gern umarmen«, sagt Inga.

Ich mache unwillkürlich einen Schritt zurück. Die Vorstellung, von Inga berührt zu werden, macht mich krank.

»Ich würde dich wirklich gern umarmen«, sagt sie erneut, und ihre Augen füllen sich mit Tränen. Mir wird bewusst, dass es mir gefällt, wenn ihre Augen sich mit Tränen füllen. Ich hoffe, sie leidet schrecklich. Ich hoffe, sie kapiert, was sie mir allein dadurch zumutet, dass sie in meinem Wohnzimmer rumsteht. Angesichts ihres verheulten Gesichts und ihres lächerlichen Wunsches nach Versöhnung fühle ich mich nervös und hilflos. In Gedanken bin ich bei der Torte, die meine Mutter für mich gebacken und dann wieder mit nach Hause genommen hat. Hätte ich das bloß nicht zugelassen! Der Boden mit der Zartbitterschokolade war sicher saftig und die Glasur lecker, und ich könnte sie genau jetzt vertilgen, um mich zu trösten. Oder ich könnte damit nach Inga werfen, könnte Stücke dieses Teufelszeugs in ihr blasses Gesicht schleudern. Nie in meinem Leben war ich so verwirrt.

Ich biete Inga keinen Stuhl an. Wir stehen einfach da wie zwei Revolverhelden vor Miss Kittys Saloon, Inga ist mit ihrem Büchlein bewaffnet und ich bin mit, na ja, mit nichts bewaffnet.

»Ich habe diesen Gedichtband mitgebracht, in dem meine Mutter immer gelesen hat«, erklärt sie mir. »Ich weiß, dass es sich seltsam anhört, aber mir ist nichts Besseres eingefallen, um dir zu erklären, was … zwischen Teddy und mir … passiert ist.«

Als ich den Namen meines Mannes aus ihrem Mund höre, zucke ich zusammen. Sie hält mir das Buch hin; ich lese den Titel: Liebesgedichte. Anne Sexton. Ihre Mutter pflegte Liebesgedichte zu lesen, während meine am Pillsbury-Kochwettbewerb teilnahm. Wie hatte diese Frau je meine Freundin sein können?

»Darin geht es um Ehebruch«, fährt Inga fort. »Aber bei Anne Sexton ist der Ehebruch eine« – sie blickt zu Boden – »spirituelle Bereicherung.« Sie lacht. »So ähnlich steht es zumindest im Vorwort.« Ihr Ausdruck ist verträumt. Ich habe Lust, sie zu schlagen. Sie plappert weiter.

»O Rosie! Ich wünsche mir so sehr, dass du verstehst, wie das passiert ist! Es war nichts, was wir geplant haben. Es war … hier.« Ich sehe zu, wie sie in den Seiten blättert. Sie schlägt eine auf und fängt an vorzulesen:

Deine Hand fand meine.
Leben schoss mir in die Finger wie ein Blutgerinnsel.

Ich bin sprachlos. Weiter und weiter liest sie mit ihrer Singsangstimme, jetzt geht es um tanzende Finger, und flammend deklamiert sie die bedeutungsschwangeren Zeilen:

Oh, mein Zimmermann …
Sie tanzen auf dem Dachboden und in Wien.

Hier bricht sie ab und blickt zu mir.

Ich bin fassungslos. »Er ist kein Zimmermann«, ist alles, was ich hervorbringe. Ich lasse mich aufs Sofa plumpsen. Inga eilt herbei und setzt sich neben mich. Hastig rücke ich weg von ihr. Bei der Vorstellung, sie könne mich berühren, möchte ich Amok laufen.

»Als Sylvia Plaths Mann Ehebruch beging, hat sie ihren Kopf in den Ofen gesteckt«, informiere ich sie, diese Schlampe, die neben mir auf dem Sofa sitzt. Dieser falsche Fuffziger, diese Verräterin, diese hohlköpfige Intellektuelle. Dabei hat sie immer mit Teddy und mir Survivor geglotzt. Sie weiß mehr darüber, wie man auf einer einsamen Insel frisches Wasser findet als über Anne Sexton.

»Und was bedeutet hier Wien?«, frage ich meine Knie. »Hast du es da auch mit meinem Mann getrieben?«

Wieder bin ich überrascht von mir selbst, darüber, wie gut es sich anfühlt, grausam zu sein. Verstohlen betrachte ich unsere nebeneinander aufgereihten Knie. Ingas sind entblößt und so glatt wie Klaviertasten, meine sehen aus wie dunkelblaue Schweinshaxen, über die Mickey Hamilton wahrscheinlich voller Stolz gesagt hätte, er habe sie säuberlich ausgelöst. Plötzlich höre ich Inga neben mir weinen, als wäre sie diejenige mit dem Kummer, als wäre sie die Grobknochige, Sitzengelassene, diejenige, der der Mann weggelaufen ist. Einmal war sie mit einem verheirateten Mann liiert, der bereit war, seine Frau für sie zu verlassen, doch Inga hatte ihm gesagt, er solle zu seiner Frau zurückkehren, weil es nicht richtig war, dass sie eine Affäre hatten. Was ist aus Ingas moralischen Ansprüchen geworden? Wie soll ich das je erfahren, wenn ich sie nicht frage?

Ich blicke in ihr hübsches Gesicht, das jetzt ein bisschen verquollen und verheult ist, und stelle ihr meine Frage. »Inga«, sage ich. »Wie konntest du mir das antun?«

»Ich habe dir nichts angetan!«, schluchzt sie. »Sondern Teddy mir

Das Zimmer beginnt, sich zu drehen, und ich bin froh, dass ich sitze. »Was?«, hauche ich.

»Teddy war’s. Es fing damit an, dass er nachts bei mir zu Hause vorbeikam. Was hätte ich denn tun sollen? Den Mann meiner besten Freundin rauswerfen?«

Ich kann es nicht glauben. Meine Hände ballen sich zu Fäusten. »Ist dir jemals der Gedanke gekommen, dass du es deiner besten Freundin hättest sagen können, dass er bei dir war?«

Ingas Augen blitzen. »Warum wusstest du nicht, dass er weg war?«

Das lässt mich fürs Erste verstummen. Ich wusste, dass er weg war. Ich hatte Abend für Abend zugesehen, wie er seine Bomberjacke überwarf. Ich hatte mir seine lahme Ankündigung angehört, er müsse »Luft schnappen gehen«. Ich habe ihn nie gefragt, warum es ihn an den eisigsten Winterabenden nach minus zwanzig Grad kalter Luft gelüstete, habe nie einen Finger gerührt, um ihn aufzuhalten. Ich war immer sehr fürs Geben. Inga stößt einen weiteren Schluchzer aus, und ich drehe mich zu ihr um. Wie es aussieht, habe ich meinen Mann weggegeben.

Ich kralle meine Hände ineinander. Ich weiß, warum ich ihn in die Kälte habe gehen lassen. Es war wegen der Kälte, die er jeden Abend beim Nachhausekommen mit sich hierherbrachte. Wie lange war es mir schon aufgefallen, ohne dass ich etwas gesagt habe, in der Hoffnung, es ginge von selbst vorüber?

»Bitte, Rosie. Du musst mir verzeihen.«

»Nein, muss ich nicht«, sage ich zu Inga und erhebe mich. »Ich muss dir überhaupt nicht verzeihen.« Ich schlendere zur Eingangstür und öffne sie.

»Du warst doch angeblich meine Freundin«, sage ich.

»Aber Rosie, ich will deine Freundin sein …«

Ich mache die Tür weit auf. »Ich hoffe, es macht dir nichts aus, aber ich habe letzte Woche mit deinem Freund geschlafen. Schließlich ist er mein Mann.«

Schockiert klappt Inga die Kinnlade herunter.

»Ich konnte nicht anders. Er war wie … Wien! Wie eine Wiener Leckerei! Ich musste ihn einfach vernaschen. Es war so eine spirituelle Bereicherung

»Rosie! Wie konntest du nur?«

»Es war ganz einfach«, sage ich, während ich sie mit der Hand zur Tür winke. »Und das ist der Typ, mit dem du anscheinend gerade ein Haus kaufst«, ergänze ich.

Inga schnellt vom Sofa hoch wie ein aufgescheuchtes Fohlen. Ich betrachte sie von der Tür aus, und alles, was ich sehe, sind dünne Glieder und Knochen. »Sieh dich nur an«, sage ich. »Du bist eine wandelnde Libelle. Eine vertikale Gottesanbeterin. Eine Krawattennadel.«

Das ist das Gemeinste, das ich jemals zu einem anderen Menschen gesagt habe. Es fühlt sich an, als käme es von meiner Mutter, nur aus meinem Mund. Aber es fühlt sich gut an. Besser als Poesie.

»Und du siehst aus wie Kirstie Alley vor ihrer Diät«, zischt Inga und stürmt zur offenen Tür. Jetzt steigen mir Tränen in die Augen. Das liegt nicht so sehr an der Beleidigung. Sondern an der Erkenntnis, dass meine und Ingas Freundschaft zu Ende ist. Vorbei. Schluss mit Gelächter, Drinks, Vertraulichkeiten, Einkaufsbummeln, Abendessen. Alles vorbei. Und ich arbeite mit daran, dass es vorbei ist. Ich will, dass es vorbei ist. Ich will keine beste Freundin, dir mir so etwas antut, die mit meinem Mann schläft, um dann mit dem Gedichtband ihrer Mutter vorbeizukommen und alles wieder einzurenken.

»Ich bereue, dass ich jemals mit dir befreundet war«, sage ich zu ihr. »Ich bereue, dass ich jemals irgendetwas mit dir geteilt habe.« Doch Inga antwortet nicht. Sie rauscht nur an mir vorbei wie eine kühle Brise. Mit der Hand umklammert sie ihr Buch, und ihre Lippen sind zu einer schmalen Linie zusammengepresst. Ich bin sicher, dass in ihrem Buch mit Liebesgedichten nichts zu finden ist, das ihre Gefühle mir gegenüber in just diesem Moment beschreiben könnte. Außerdem muss man nicht die ganze Zeit reden, um jemandem zu sagen, wie sehr man ihn hasst.

Seitensprung ins Glück
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